Eine Frage der Wahrnehmung

Warum werden manche Dinge als zusammengehörend empfunden, manche als voneinander abgegrenzt? Warum erkennen wir eine bestimmte Form, obwohl sie nur angedeutet wird?

Das Spiel mit der Wahrnehmung zieht die Menschen schon lange in ihren Bann – und gab vor über einem Jahrhundert den Anstoß zur Gründung der Gestaltpsychologie: Verschiedene Schulen und zahlreiche kluge Köpfe wie Max Wertheimer, Wolfgang Köhler und Kurt Koffka beschäftigten sich ab diesem Zeitpunkt intensiver damit und schrieben die „Gestaltgesetze“ nieder, die seitdem nichts an ihrer Gültigkeit verloren haben und heute zum 1×1 der Gestaltung gehören.

Gestalten richtig gemacht

Nach den Gestaltgesetzen von Max Wertheimer und ihrer Erweiterung durch Stephen Palmer

Gesetz der Nähe:

Weisen Elemente geringe Abstände zueinander auf, werden sie als zusammengehörend wahrgenommen.

Beispiel: Ruine Aggstein – Folder-Rückseite

Selbst wenn über den Kästchen keine Überschriften stehen würden, wäre durch die kleineren und größeren Abstände klar erkennbar, welche Informationen zusammengehören.

Gesetz der Ähnlichkeit:

Gesetz der Ähnlichkeit:

Sind Elemente einander ähnlich, werden sie eher als zusammengehörend empfunden.

Beispiel: Harmony Ambiente - Visitenkarte

Die zwei Farben kennzeichnen, welche Buchstaben zusammengehören. Dadurch lassen sich klar zwei Wörter aus dem Buchstabensalat herausfiltern.

Gesetz der guten Gestalt/Prägnanz:

Formen mit einer einprägsamen oder einfachen Struktur werden leichter wahrgenommen als komplexe Formen, die erst verstanden werden müssen.

Beispiel: Baumeister Hoefler - Logo

Die verschiedenen Linien des Logos werden als dreidimensionale Objekte wahrgenommen.

Gesetz der guten Fortsetzung/Kontinuität:

Wiederholen sich ähnliche Elemente, werden sie als Linie wahrgenommen. Unsere Wahrnehmung geht davon aus, dass Linien immer den einfachsten Weg nehmen und selbst bei einer Kreuzung einer Geraden folgen.

Beispiel: Betriebsrat Rotes Kreuz - Logo

Durch die Anordnung der roten Quadrate wird eine Linie wahrgenommen.

Gesetz der Geschlossenheit:

Geschlossene Strukturen werden gegenüber offenen bevorzugt.

Beispiel: Metaflex - Logo

Selbst wenn die einzelnen Linien nicht miteinander verbunden sind, nehmen wir eindeutig ein „M“ wahr.

Gesetz des gemeinsamen Schicksals & Gesetz der Gleichzeitigkeit:

Gesetz des gemeinsamen Schicksals:

Bewegen sich Elemente auf gleiche Art und Weise, werden sie als zusammengehörend wahrgenommen.

Gesetz der Gleichzeitigkeit:

Verändern sich Elemente gleichzeitig, empfinden wir sie als zusammengehörend.

Beispiel: Weingut Mantler – animierte Riedenkarte

Indem die Rieden gleichmäßig pulsieren, wird ihre Ähnlichkeit demonstriert: Sie kennzeichnen alle jeweils eine Lage und können vom/von der Website-UserIn angeklickt werden. Das Pulsieren kann in diesem Fall entweder als Bewegung oder als Veränderung wahrgenommen werden. In beiden Fällen demonstriert es die Zusammengehörigkeit der Elemente. 

Gesetz der gemeinsamen Region:

Befinden sich Elemente gemeinsam in einem abgegrenzten Gebiet, werden sie als zusammengehörend empfunden – selbst wenn die Elemente einander nicht ähnlich sind.

Beispiel: Hotel Rainers 21 – Platzset

Auf den Platzsets befinden sich zahlreiche Buchstaben. Der Gast muss nun Wörter finden, indem er die gemeinsame Region herstellt.

Gesetz der Verbundenheit:

Sind Elemente miteinander verbunden, werden sie als ein Objekt wahrgenommen.

Beispiel: DDSG - Fahrplan

Durch die Verbindung der einzelnen Punkte sowie durch die Farbe wird vermittelt, welche Stationen zu einer Fahrt gehören.

Um Regeln brechen zu können, musst du sie kennen.

INTERVIEW

Art Director Roman Gebath über die Gestaltgesetze, ihre Anwendung und ihre Rolle im Design-Prozess.

 

Warum sind diese Regeln wichtig?

Als professioneller Gestalter ist es wichtig, diese Wahrnehmungsregeln zu kennen, denn sie beschreiben, wie die Welt funktioniert. Es handelt sich dabei um automatische Prozesse, die unbewusst in uns ablaufen. Sie zeigen, dass nicht alles Geschmackssache ist. Es gibt auch bei Designs ein objektives Richtig und Falsch – vor allem, wenn es um Informationsvermittlung geht.

Das heißt, es geht dabei primär um die Funktionalität?

Genau. Es sind eben pragmatische Regeln. Wer sie kennt und beachtet, ist in der Lage, ein funktionierendes Design zu entwickeln. Das heißt, im ersten Schritt steht die Funktionalität im Zentrum, im Anschluss geht es dann um die Schönheit. Das eine bedingt das andere und umgekehrt.   

Sind das Gesetze, die streng befolgt werden müssen oder sind sie auch dazu da, hin und wieder gebrochen zu werden?

Natürlich handelt es sich dabei nicht um ein strenges Regelwerk. In erster Linie schafft es Klarheit und vereinfacht die Wahrnehmung. Aber nur wer diese Regeln kennt, kann sie auch brechen und sie spielerisch einsetzen. Das kann einem Design Spannung verleihen.  

Es muss auch nicht immer alles berücksichtigt werden.

Wie werden sie nun richtig eingesetzt?

Viele lassen sich verwenden, um Gruppierungen zu kreieren und damit Informationen leichter erfassbar zu machen. Bei einer Visitenkarte werden beispielsweise die persönlichen Kontaktdaten und die Firmendaten optisch voneinander getrennt. Oder man hebt etwas hervor, um den Fokus darauf zu setzen. So oder so gehören die Regeln zum Handwerk eines jeden Gestalters und sind oft schon so verinnerlicht, dass wir sie unterbewusst anwenden.